Text: Reinhard Dayer, langjähriger Bundesgeschäftsführer der Naturfreunde Österreich,
Fotos: Naturfreunde Archiv, Bezirksmuseum Favoriten
Das 19. Jahrhundert war von großen Gegensätzen und gewaltigen gesellschaftlichen Veränderungen gekennzeichnet. Das Besitz- und Bildungsbürgertum, Kaufleute, Gutsbesitzer, Ärzte, Richter und die Angehörigen des Hochadels prägten im Wesentlichen das kulturelle und wirtschaftliche Leben, mit dem Nationalismus und Wirtschaftsliberalismus auch die Politik. Aus der Begeisterung wohlhabender bürgerlicher Kreise für die Alpen wurden 1862 der Österreichische Alpenverein (ÖAV), 1869 der Deutsche Alpenverein (DAV) und der Österreichische Touristenklub (ÖTK) gegründet. 1873 wurde der ÖAV dem DAV als „Sektion Austria“ angeschlossen und bald darauf in „Deutscher und Österreichischer Alpenverein“ umbenannt, was die zahlreichen deutschen Hüttennamen in Österreich erklärt. Neben dem wissenschaftlichen Interesse für die Alpen entstand mit gigantischen Spenden wohlhabender Bildungsbürger – vorwiegend Mitglieder des Alpenvereins - sehr rasch ein dichtes Hütten- und Wegenetz, was den alpinen Tourismus der vor allem begüterten Gesellschaftsschichten förderte.
Zwischen 1870 und 1900 veränderte sich die Welt rasch, vor allem in den Städten brach die bürgerliche Ordnung schrittweise zusammen. Die industrielle Revolution führte zu einer Umstrukturierung von vorwiegend handwerklichen Betrieben zur Produktion in großen Fabriken. Eine riesige Börsenspekulationswelle erschütterte das Bankengefüge und löste eine lang anhaltende Wirtschaftskrise aus. Die Arbeiterschaft war von diesen Entwicklungen besonders betroffen. Die Mechanisierung der Arbeit ermöglichte, mit einer geringeren Zahl von Arbeiterinnen und Arbeitern mehr Produkte herzustellen. Massenarbeitslosigkeit auf der einen Seite und tägliche Arbeitszeiten von bis zu 16 Stunden für jene, die Arbeit hatten, aber nicht davon leben konnten, waren die Folge. Gearbeitet wurde auch an Samstagen bis in den späten Nachmittag. Urlaubsanspruch gab es für die Arbeiterschaft keinen. Die Arbeitssituation in den Wiener Ziegelwerken zählte zu den unmenschlichsten der damaligen Zeit. Die Arbeiterinnen und Arbeiter wurden wie Sklaven gehalten. Sie erhielten ihren Lohn nicht in einem gültigen Zahlungsmittel, sondern in Form von Blechgeld, mit dem sie nur in der Werkskantine zu überhöhten Preisen einkaufen konnten, und mussten mit ihren Familien im Werk schlafen. In den Städten herrschte unvorstellbare Wohnungsnot, die Wuchermieten konnten von einem normalen Arbeitslohn nicht bezahlt werden. Um finanziell ein wenig besser über die Runden zu kommen, wurden Schlafstellen an Bettgeher vermietet, während man auf Schicht war.
Diese Lebensbedingungen in den Fabriken und Städten führten vermehrt zu Tumulten, Demonstrationen und gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Arbeitern und der Polizei. Nach intensiven Bemühungen gelang es, 1889 die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Österreichs zu gründen.
Als Reaktion auf die tristen Verhältnisse kurz vor der Jahrhundertwende in der Monarchie wurden nur sechs Jahre später die Naturfreunde als Touristenverein gegründet.
Die Gründungsväter Alois Rohrauer, Georg Schmiedl und Karl Renner waren keine typischen Vertreter der Arbeiterklasse. Sie waren gut gebildet, bodenständig, politisch verankert und sozial stark geprägt.
Der Sozialist, Freidenker und Pädagoge Georg Schmiedl schaltete am 22. März 1895 ein Inserat in der „Arbeiterzeitung“, in dem Naturfreunde zur Gründung einer touristischen Gruppe eingeladen wurden. Alois Rohrauer und Karl Renner waren von der Idee begeistert und organisierten mit Schmiedl am 14. April 1895 die erste Wanderung auf den Anninger bei Wien, an der 85 Frauen und Männer, Lehrer, Beamte, Studenten sowie Arbeiterinnen und Arbeiter aller Berufe, teilnahmen. Georg Schmiedl sah sich als Lebensreformer und das Ziel der Naturfreunde darin, Arbeiter vom Kartenspiel und den Trinkgelagen aus den stickigen Wirtshäusern wegzubringen und in ihnen die Liebe zur Natur zu wecken.
Alois Rohrauer aus Spital am Pyhrn war gelernter Sensenschmied und zog 1866 nach Wien, wo er in der Simmeringer Waggonfabrik als Feinmechaniker arbeitete. Als Sozialdemokrat, Gewerkschafter und Naturfreunde-Pionier kämpfte er für die Verbesserung der Lebensverhältnisse der Arbeiterschaft und für mehr Gleichberechtigung. Bei der vereinsrechtlichen Gründung der Naturfreunde am 16. September 1895 wurde Rohrauer zum ersten Obmann gewählt. Er übte diese Funktion bis 1920 aus.
Karl Renner, Student und späterer Staatskanzler in der Ersten Republik, war der intellektuelle und politische Kopf des jungen Vereins. Er stellte als Vereinsziel das Recht der Arbeiterschaft auf Erholung in den Vordergrund und unterstützte den Kampf der Arbeiterbewegung um „acht Stunden Arbeit, acht Stunden Muße und acht Stunden Schlaf“.
In einem berührenden Leitartikel im „Naturfreund“ 1898, den ich oft gelesen und in Referaten vorgetragen habe, klagte Karl Renner die gesellschaftlichen Verhältnisse und die großen Klassenunterschiede an. Er ermunterte aber auch die Arbeiterschaft, sich ihrer Stärken zu besinnen, und schrieb von treuen Herzen, von Vertrauen, von kräftigen Armen, die einander helfen, von fleißigen Händen die erwerben, aber nicht für sich, sondern für alle. Nicht am Boden hängt der Mensch, mahnte er, sondern am Menschen.
Heute würde man den Inhalt der damaligen Botschaft als Werte bezeichnen. Werte wie Gerechtigkeit, Solidarität, Zusammenhalt, Gemeinschaft, Vertrauen, Verantwortung und Freiheit. Ja, und genau das sind die Werte, die unsere Naturfreunde-Familie über 125 Jahre auszeichneten.
Der Verein war in der Gründerzeit für Arbeiterinnen und Arbeiter eine neue Möglichkeit, in familiärer Atmosphäre unbeschwert zusammenzukommen und bei Wanderungen, vorerst nur in der näheren Umgebung von Wien, oder bei Vereinsabenden mit Vorträgen über die Natur, das Wetter, Kartenkunde oder andere naturwissenschaftliche Themen ihresgleichen zu treffen. Der Vereinsführung war es auch sehr wichtig, die Bildung der Mitglieder, etwa durch die Einrichtung einer Bücherei, zu verbessern sowie ihren politischen und wissenschaftlichen Horizont zu erweitern. Die ersten großen Alpintouren, die ersten Schikurse der Naturfreunde im Jahr 1906 im Wienerwald, der gemeinschaftliche Bau von Hütten, in denen sich die Mitglieder wohlfühlen konnten, sowie unzählige andere Aktivitäten führten dazu, dass die Naturfreunde den Schwächsten in der Gesellschaft das Selbstwertgefühl gestärkt und Lebensfreude geschenkt haben.
In den vielen Jahren meiner Tätigkeit wurde ich oft gefragt, ob die Naturfreunde eine politische Organisation sind. Nein, als solche wurden sie nicht gegründet. Viele ihrer damaligen und heutigen Ziele, Aktivitäten und Errungenschaften sind aber in höchstem Maße wichtiger gesellschaftspolitischer Natur. Heute sind es Themen wie leistbare Freizeit für Familien, der Natur- und Klimaschutz, der Schutz der Alpen vor Übererschließung oder die Verteidigung der freien Begehbarkeit des Waldes.